Nachholbedarf bei den Chief Digital Officern von Dax-Unternehmen

Wie sehr sich das Geschäft von Eon verändert, lässt sich an einer Personalie festmachen: Seit April ist Victoria Ossadnik, 53, im Vorstand für die Digitalisierung und die IT-Strategie des Dax-Konzerns verantwortlich. Die Managerin, die zuvor bei Microsoft tätig war, soll die Organisation in die Lage versetzen, ein „digitales Betriebssystem für die Energiewirtschaft“ zu entwickeln – etwa für die dezentrale Produktion von Strom.

Das Programm ist ehrgeizig: Der Energieversorger aus Essen will bis Ende 2023 die gesamte IT in die Cloud verlagern, um die Prozesse flexibler und den Betrieb effizienter und somit billiger zu machen. Und gerade erst hat die Digitalchefin ein Forschungsprojekt mit IBM angekündigt: Es geht darum, Quantencomputer für die Steuerung der Verteilnetze zu nutzen – das Ziel ist, Schwankungen bei der Erzeugung erneuerbarer Energien auszugleichen.

Ossadnik steht für einen neuen Managertypus: Immer mehr Unternehmen machen die Digitalisierung zur Vorstandsaufgabe. 18 der 30 Dax-Mitglieder haben mittlerweile eine konkrete Zuständigkeit benannt oder verfügen zumindest über ausgewiesene Expertise, drei mehr als im Vorjahr. Anders gesagt: Bei 60 Prozent der wichtigsten börsennotierten Unternehmen ist das Thema Chefsache – bei 40 Prozent aber weiterhin nicht.

Dies geht aus einem Forschungsbericht hervor, den Dirk Stein, Professor für Ökonomie und Management an der FOM-Hochschule und Tobias Kollmann, Professor für Digital Business an der Universität Duisburg-Essen verfasst und mit der Unternehmensberatung KPMG publiziert haben.

Für die Auswertung, die dem Handelsblatt vorab vorliegt, haben die drei Organisationen die Geschäftsberichte der aktuellen Dax-30-Mitglieder aus dem vergangenen Jahr analysiert.

Lob für Siemens und Allianz

Die Pandemie habe dazu beigetragen, dass sich die Unternehmen „verstärkt dem Thema Digitalisierung zuwenden mussten“, sagt Stein – beispielsweise, um in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen die Kunden über digitale Kanäle zu erreichen.

Dennoch sei weiterhin viel zu tun, betont der Ökonom. Das gelte einerseits für die Vorstände, wo neben Eon bisher nur Infineon im Vorstand einen dezidierten Digitalchef installiert hat, andererseits für digitale Köpfe in den Aufsichtsräten: „Gerade auf der Arbeitnehmerseite gibt es noch Nachholbedarf.“

Die Studienautoren fordern zudem, die Digitalisierung bei der Gestaltung der Vergütungssysteme zu berücksichtigen, was bislang nur elf Dax-Konzerne tun. Man könne auf der operativen Ebene viele Digitalisierungsmaßnahmen umsetzen, „allerdings erhöht die Verankerung in Governance und Steuerungsmodell die Sicherheit, dass diese Maßnahmen strategiekonform sind“, sagt Georg Knöpfle, Partner bei KPMG.

Besonderes Lob haben die Forscher für Allianz und Siemens: Beide Unternehmen erfüllen der Untersuchung zufolge alle Kriterien für „Digital Leadership“, schaffen also auf der Führungsebene die Voraussetzung für eine erfolgreiche Digitalisierung.

Chefdigitalisierer im Nebenberuf

Am Geld für Digitalprojekte mangelt es nicht. Die Investitionen in digitale Technologie steigen, trotz der Corona-Pandemie. Der Marktforscher IDC erwartet in Deutschland für 2021 einen Zuwachs von 4,4 Prozent auf knapp 151 Milliarden Euro, im Softwaremarkt sogar von knapp sieben Prozent – es gebe eine „deutliche Dynamik“ bei Digitalisierungsprozessen, die zu einer verstärkten Nutzung der Cloud führe, heißt es in einem aktuellen Bericht.

Beispiel Henkel: Der Konsumgüterkonzern mit Marken wie Persil, Schwarzkopf und Pritt hat Anfang des Jahres die Digitalkompetenzen in einer neuen Organisation gebündelt, die technologiegetriebene Geschäftsmodelle entwickeln soll. Henkel DX – so der Name – umfasst neben der alten IT-Organisation die Digitaleinheit sowie die Risikokapitalaktivitäten.

Es geht um Marken, die rein digital vermarktet werden, Shampoos, die sich die Kundinnen selbst zusammenstellen können, perspektivisch auch um Abos, über die Produkte wie Kosmetik regelmäßig ins Haus kommen. Bereits jetzt soll eine Wissensdatenbank namens Albert mithilfe Künstlicher Intelligenz den Mitarbeitern in der Klebstoffsparte erleichtern, auf das Wissen ihrer Kollegen zuzugreifen.

Digitale Technologien ermöglichten neben der Automatisierung von Prozessen auch neue Produkte und datengetriebene Geschäftsmodelle, betont Tobias Kollmann, Professor an der Universität Duisburg-Essen, der die Studie mitverfasst hat. Dax-Neuling Delivery Hero steht mit seinen Lieferdiensten dafür exemplarisch.

Die Umstellung fordere Unternehmen in Gänze, sagt der Forscher. „Digitalisierung ist und bleibt auch nach Corona ein Topthema für jeden Vorstand und gehört deswegen nachhaltig in jede Unternehmensstrategie“, lautet seine Schlussfolgerung.

Im Dax 30 gibt es einigen Verbesserungsbedarf: Zwölf Unternehmen haben im Vorstand weder eine Verantwortlichkeit definiert, noch verfügen die Topmanager nach der Analyse der Forscher über ausgewiesene Digitalkompetenz. Hinzu kommt: Die Chefdigitalisierer erledigen diese Aufgabe häufig im Nebenjob, weil sie weitere Aufgaben haben. Nur Eon und Infineon haben reine Digitalchefs.

Zu den Unternehmen ohne Chief Digital Officer oder ähnliche Position im Vorstand zählen bekannte Namen wie BMW, Daimler, RWE und Linde. Dass Digitalisierung in diesem Unternehmen trotzdem wichtig ist, zeigt das Beispiel Henkel: Chief Digital and Information Officer Michael Nilles ist unterhalb des Führungsgremiums angesiedelt, berichtet aber direkt an den Vorstandsvorsitzenden Michael Knobel. In anderen Organisationen wird das Querschnittsthema dezentral verfolgt, also in den jeweiligen Sparten.

Bonus für Digitalisierung

In den Aufsichtsräten hat sich auf der Arbeitgeberseite einiges getan, in 22 Unternehmen sehen die Forscher die Voraussetzungen für „Digital Leadership“, wie sie es selbst nennen, fünf mehr als noch vor einem Jahr. Dagegen sei auf der Arbeitnehmerseite nur bei vier Dax-Konzernen eine Digitalisierungsverantwortung und -kompetenz zu beobachten.

Die größte Veränderung beobachten die Forscher bei der Vergütung: Elf Dax-Konzerne bieten dem Topmanagement finanzielle Anreize für die Digitalisierung – im Vorjahr waren es noch sieben. Diese können unterschiedlich ausgestaltet sein, SAP honoriert beispielsweise besonders die Umstellung auf das Geschäftsmodell mit dem Cloud-Computing, das in der Softwarebranche zum neuen Standard geworden ist

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