Die Corona-Pandemie hat die Diversitätsanstrengungen deutscher Konzerne verlangsamt. Es gibt viele punktuelle Einzelmaßnahmen, aber wenig nachhaltige Entwicklungen. Zu diesem Schluss kommt der „German Diversity Monitor 2021“, den die bundesweite Initiative Beyond Gender Agenda in diesem Jahr zum zweiten Mal aufgelegt hat.
Die Studienergebnisse, die dem Handelsblatt exklusiv vorliegen, stehen in einem deutlichen Widerspruch zu den Bekundungen vieler Unternehmen, die Vielfalt in den Belegschaften und vor allem in den Chefetagen zu erhöhen.
Da „werden Frauenquoten veröffentlicht, Regenbogenflaggen geschwenkt und Diversity-Weeks öffentlich wahrnehmbar veranstaltet“, wie Studieninitiatorin Victoria Wagner meint. Für sie seien das „mehr Lippenbekenntnisse als Realität“. Die Werberin war in ihrem früheren Berufsleben erfolgreiche Agenturchefin und startete vor eineinhalb Jahren die Initiative Beyond Gender Agenda.
Beispiel Fußball-Europameisterschaft: Viele Unternehmen wollten in diesem Jahr mit Kampagnen ein Bekenntnis zu Diversität und Inklusion abgeben. Von BMW über Volkswagen bis Siemens hüllten viele Konzerne ihre Logos in Regenbogenfarben, zumindest in Deutschland. Doch folgen dem Bekenntnis auch Taten? Die Studienautoren des „German Diversity Monitors“ meinen: oftmals nicht. Eine Regenbogen-Lücke tut sich auf.
Die Ursache für das „Diversitäts-Dilemma“ sieht Wagner vor allem in der fehlenden Priorisierung. Nur 26 Prozent der befragten Unternehmen würden die verantwortliche Person für Diversität im Vorstand oder in der Geschäftsführung ansiedeln und Vielfalt somit zur Chef:innensache machen, sagt sie. „Liegt die Verantwortung für Diversität nicht im Topmanagement, fehlen häufig auch die für die Transformation benötigten Ressourcen.“
Diverse Firmen sind profitabler
Studien zeigen dabei immer wieder, dass heterogene Führungsgremien einen größeren Geschäftserfolg aufweisen. Eine Analyse der Unternehmensberatung McKinsey kam 2020 zu dem Ergebnis, dass gender-diverse Firmen eine um 25 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit haben, überdurchschnittlich profitabel zu sein. Bei der ethnischen Diversität, die die Internationalität abbildet, liegt der Wert sogar bei 36 Prozent.
Beyond Gender Agenda ist nicht die einzige Diversitätsbewegung. Die 2011 gegründete Allbright Stiftung weist ebenfalls regelmäßig in ihren Berichten auf eine zu geringe Frauenquote in Vorstandsetagen hin. Auch der „Gender Diversity Index“ der Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG) berechnet alljährlich die nach wie vor große Lücke in der Besetzung.
Beyond Gender Agenda will in diesem Feld ebenfalls eine veritable Größe erreichen. In dem Beirat der jungen Initiative sitzen unter anderem Douglas-CEO Tina Müller, Martin Seiler, Personalvorstand der Deutschen Bahn sowie Andrea Wasmuth, Geschäftsführerin der Handelsblatt Media Group.
Zusammen mit der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg hat Initiatorin Wagner rund 160 börsennotierte Unternehmen, darunter auch die Dax-40-Unternehmen nach sechs Diversitätskriterien durchleuchtet. In den Dimensionen Geschlecht, sexuelle Orientierung und Identität sowie Behinderung seien die Veränderungen zum Vorjahr „besonders eindrücklich“.
Die Vorstände in den Dax-Konzernen seien meist männlich, heißt es in dem Monitor, und die Erweiterung auf 40 Unternehmen verschärfe das Problem sogar noch mehr. Unter 233 Vorstandsmitgliedern sind nur 39 Frauen und ein weiblicher CEO, so die Berechnung der Diversitätsinitiative.
Genau hier setze das neue Führungspositionen-Gesetz an. Aktuell erfüllen laut Studie mit Brenntag, Deutsche Wohnen, Hellofresh, MTU Aero Engines AG sowie Sartorius fünf der 40 Dax-Unternehmen die geforderte Frauenquote nicht. Auch der Gasehersteller Linde fällt wegen der ausschließlichen Berufung von Männern in den auf neun Ressorts erweiterten Vorstand negativ auf.
Eine große Lücke klaffe zwischen kommunizierter Ambition und tatsächlicher Umsetzung in der Dimension LGBT+ (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und andere). „Unternehmen präsentieren sich umfassend in Regenbogenfarben, die Maßnahmen zur Förderung dieser Zielgruppe bleiben jedoch weit hinter den Erwartungen zurück“, heißt es.
Deutsche Bahn will kein „Pinkwashing“
Eine Ausnahme vom „Pinkwashing“ ist nach Ansicht von Wagner die Deutsche Bahn. Konzernchef Richard Lutz lässt sich in der Studie mit konkreten Maßnahmen zitieren: „Wir ermöglichen zum Beispiel die Teilnahme an Coming-out-Seminaren und bieten eine Peer-to-Peer-Beratung rund um das Thema „trans* im Job“ an“, schreibt er. „Pinkwashing ist für uns ein rotes Tuch.“
Menschen mit Behinderungen stehen laut Studie selten im Fokus des Diversitätsengagements der Unternehmen. „Wie lange wird es noch dauern, bis es für uns alle alltäglich ist, dass jemand mit Down Syndrom an der Universität unterrichtet oder ein gehörloser Journalist in der Bundespressekonferenz Fragen stellt?“, zitiert die Studie den Aktivisten Raul Krauthausen. Er appelliert an die Arbeitgeber, sich nicht mit der Zahlung einer Ausgleichsabgabe aus der Verantwortung zu stehlen.
Als weitere Dimension ist in diesem Jahr die Rolle der sozialen Herkunft in den Monitor einbezogen worden. Auf diesen Aspekt hatte Tijen Onaran, Geschäftsführerin von Global Digital Women und Beraterin von Unternehmen in Diversitätsfragen, in einem Gastkommentar im Handelsblatt kürzlich aufmerksam gemacht. Auch in die „Charta der Vielfalt“ sei diese Dimension erst kürzlich aufgenommen worden, schrieb sie.
„Es dürfte kein Zufall sein, dass gerade die soziale Herkunft so spät in dieser Liste auftaucht. Das unterstreicht ihren unsichtbaren und wenig greifbaren Charakter.“ Die „Charta der Vielfalt“ ist eine 2006 veröffentlichte Selbstverpflichtung der Wirtschaft und ein Verein unter Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin, der sich für ein vorurteilsfreies Arbeitsumfeld einsetzt.